Coby, ich greife deinen Beitrag einmal exemplarisch auf, weil du ein paar Dinge zusammengefasst hast, die ich dieser Tage häufig lese. Ich spare mir an der Stelle den Disclaimer, dass ich Gewalt jedweder Art natürlich weder unterstütze noch in irgendeiner Weise relativiere oder toleriere. Wer, ob im Fußball oder bei sonst einer Gelegenheit, andere mut- und bereitwillig verletzt oder in Gefahr bringt, der gehört dafür bestraft. Ohne Wenn und Aber.
Nun zu den Punkten, um die es mir konkret geht:
Nein man kann niemanden dafür verantwortlich machen, der nachweislich nicht an den Geschehnissen beteiligt war. Man kann diejenigen die diese aber decken eben für das Decken zur Verantwortung ziehen.
Wer genau wäre das denn? Ist eine ernst gemeinte Frage. Wer deckt hier konkret jemanden? Kannst du das benennen? Namentlich? Oder kannst du pauschal sagen, welche Gruppe da welche Täter bewusst schützt oder deckt? Ich lese hier zum Beispiel viel in Bezug auf die Wilde Horde, die scheinbar als präsenteste Ultra-Gruppierung und aufgrund ihrer Freundschaft zu den Supras allgemeingültig zur Verantwortung zu ziehen wäre. Aber warum eigentlich? Die Coloniacs pflegen ihrerseits ebenso eine Freundschaft zu Pariser Gruppen (hier ihre Stellungnahme zum Verbot besagter Gruppen: klick). Ich habe aber noch nicht gelesen, dass sie nun zu verbannen wären.
Wenn ich die mir bekannten Bilder aus Nizza sehe, die teils ja auch hier geteilt wurden, dann gibt es in meinen Augen andere (Kölner) Gruppen, über die man an der Stelle eher diskutieren sollte.
Dabei ist mir persönlich dieses Kindergarten-Gerede von wegen wer angefangen hat völlig egal, ob die Sicherheit vor Ort zu schlecht war genauso.
Die Sicherheit vor Ort ist also Kindergarten-Gerede? Nur mal so: In dieses Stadion konnte jeder einfach wahllos hineinspazieren. Ohne jedwede Kontrolle. Kannst du das aus der Ferne zuordnen? Das muss man doch ansprechen können, ohne dass es gleich als Relativierung abgetan wird. Als Veranstalter trägt man für die Sicherheit der Besucher*innen eine große Verantwortung, der Nizza in meinen Augen absolut nicht gerecht wurde. Die Ausschreitungen und Taten sind asozial und absolut zu verurteilen, hätten, wenn man den entsprechenden Hinweisen des FC und auch der UEFA gefolgt wäre, aber zu großen Teilen verhindert werden können. Kannst du dir vorstellen, dass in Müngersdorf so viele Leute einfach ungehindert vom Gästebereich bis zur Südkurve vordringen können? Oder dass es generell zu solchen Szenen im Stadion kommt, ohne dass Sicherheitskräfte und Polizei umgehend eingreifen? Das ist doch kein Kindergarten-Gerede, wenn man benennt, dass Nizza als Veranstalter sowie die örtliche Polizei hier grob-fahrlässig entsprechende Hinweise einfach ignoriert haben. Und ebenso ist es sicher kein Kindergarten-Gerede, wenn man hinterfragt, warum letztere in Teilen offenbar lieber selbst mitmischte, anstatt beide Lager voneinander zu trennen und die Sicherheit wiederherzustellen.
Man kann beide Themen unabhängig voneinander diskutieren, ohne dabei das jeweils andere zu relativieren. Wenn ich das sogenannte Sicherheits-Konzept in Nizza kritisiere, muss ich eigentlich nicht extra erwähnen müssen, dass natürlich in erster Linie die Gewalttäter selbst für die von ihnen ausgehende Gewalt verantwortlich sind. Wenn eine Bank ihren Haupteingang sowie den Tresorraum unbewacht offen lässt und ich mich dann dort bediene, bin primär immer noch ich der Verbrecher. Dennoch wirst du wohl berechtigterweise hinterfragen, warum die Bank so fahrlässig agiert hat. Das sind unterschiedliche Themen, die man differenziert diskutieren kann und in meinen Augen auch muss.
Wer Leute aus verbotenen Pariser Ultra Gruppierungen mit nach Nizza nimmt, der legt es drauf an und wer dann noch Sturmhauben und andere verbotene Gegenstände dabei hat war auch darauf vorbereitet.
Auch hier die Frage: Wer hat die Pariser Ultras "mitgenommen"? Denn Tickets für das Spiel konnte sich bekanntlich jede*r kaufen (insbesondere in Frankreich), wie schon vorab recht gut dokumentiert wurde. Und waren gewalttätige Auseinandersetzungen damit vorprogrammiert? Ich glaube z.B. dass wir einen anderen Verlauf erleben, wenn es die Übergriffe seitens Nizza nicht gibt. Auch hier: Nein, die Reaktionen darauf sind dadurch nicht gerechtfertigt. Aber eben auch nicht zwingend geplant oder vorhersehbar. Es gab, davon bin ich überzeugt, einige wenige, die mit dem festen Ziel gewalttätiger Auseinandersetzungen nach Nizza gereist sind. Aber ich glaube nicht, dass das die Mehrheit derjenigen war, die am Ende vor Ort an den Ausschreitungen beteiligt war. Sturmhauben sind nicht zwingenderweise für geplante Gewalt im Gepäck, sofern man den Einsatz von Pyrotechnik (in der Kurve, nicht als Wurfgeschoss) nicht mit Gewalt gleichsetzen möchte.
Und noch eine allgemeine Anmerkung: Ich lese zuletzt viele Forderungen, z.B. die Horde nun kollektiv zu bestrafen und zu verbieten, aus der Kurve zu entfernen, etc. Die Supras wurden vor über 10 Jahren offiziell verboten. Die Gruppe besteht bis heute weiter, wie wir am vergangenen Sonntag feststellen durften. Was also hat das Verbot am Ende bewirkt?
Das beim Union-Spiel gezeigte Banner halte ich persönlich für dumm und nicht wirklich durchdacht, auch wenn ich die Intention dahinter sogar verstehen kann. Dennoch wurde einerseits zu viel Raum für Interpretationen gelassen (ob bewusst oder unbewusst sei mal dahingestellt), viele Lesarten des Banners, bis hin zum Bekenntnis zu Gewalt, konnten wir ja auch hier bewundern - und andererseits war der Zeitpunkt natürlich ebenfalls wenig hilfreich. Hier hätte ich mir zumindest Zurückhaltung gewünscht.
In Summe glaube ich, dass man das Thema an vielen Stellen sehr oberflächlich betrachtet und recht vorschnell nach den vermeintlich einfachen Lösungen ruft, die in meinen Augen aber mehr kaputt machen, als dass sie tatsächlich helfen würden. Die Aufarbeitung muss in vielen Fassetten erfolgen, darunter die genannten Sicherheitsaspekte, die Rolle von Nizza, die Rolle des FC, die Rolle der Szene, der örtlichen Polizei, etc. Welche Konsequenzen hieraus folgen und gegen wen diese sich richten, sollte das Ergebnis einer strukturierten, sachlichen Aufarbeitung sein und nicht der Befriedung der lauten (wenn auch verständlichen) ersten Rufe dienen.